Entwurf: Lotte Bach
Ausführende: Paramentengruppe St. Mauritz
Fertigstellung: 1994
Die Botschaft des Mauritzer Hungertuchs: “Die Geschichte des Unheils - die Geschichte des Heils”
Es ist ein alter Brauch, während der österlichen Fasten- oder Bußzeit ein Fasten- oder Hungertuch in den Kirchen aufzuhängen. Zu den kontemplativen Formen der Wegbegleitung Jesu gehört auch die Betrachtung des Hungertuchs. Seine Bilder weiten den Blick auf die Geschichte des Unheils und die des Heils, der Erlösung der Menschheit durch Jesus Christus. Die Bezeichnung Hungertuch verweist heutzutage auf den Hunger der Menschen nach Brot und Gerechtigkeit, nach Frieden und nach Gott und seiner Liebe.
Auf der linken Seite sehen wir drei Bilder, die - unten beginnend - die sich steigernde Geschichte des Unheils, auf der rechten die des Heils zeigen. In der Mitte sehen wir von unten aufsteigend drei Bilder der Errettung: die Arche Noah, das Kreuz Jesu Christi und den Bogen am Himmel als Zeichen der Verheißung Gottes, alle Lebewesen zu bewahren. Folgen wir den Bildern auf der Querachse, so ergeben sich drei Ebenen des Dramas von Unheil und Heil: Die untere Ebene ist der Beginn des Unheils, die mittlere die Konfrontation von Unheil und Heil, und die obere Ebene stellt die Endzeit und ihre Vollendung dar. So helfen uns die Bilder des Hungertuchs, „die Breite und Länge, die Höhe und Tiefe” des Geheimnisses des Kreuzes Christi zu erfassen.
Das Mittelbild will uns die universale und kosmische Bedeutung des Kreuzestodes Jesu erschließen, angedeutet durch den Regenbogen, das Zeichen des Bundes Gottes mit Noah zur Rettung der Schöpfung. Die Flut, die die Erdkugel bedeckt, symbolisiert das Meer der Zeit und Geschichte, auf der das Schiff der Kirche schwimmt wie eine Arche. Dargestellt wird die Kirche als Gesamtkirche, repräsentiert durch den Petersdom in Rom, und als Ortskirche, repräsentiert durch die Kirche von St. Mauritz.
Der erste Mord: Die Bibel lässt die Geschichte des Unheils mit der Abwendung des Menschen von Gott beginnen. Mit ihr beginnt die Zwietracht der Menschen untereinander. Sie führt in der Bibel zum Mord Abels durch seinen Bruder Kain. Nicht Gott ist der Grund des Bösen, sondern der Missbrauch der Freiheit, die Gott den Menschen geschenkt hat. Die Abkehr von Gott führt zu all dem Bösen, das Menschen seitdem einander zufügen, zu der unaufhörlichen Kette von Massenmorden, dem Meer von Leiden und Gräueln.
Verrat und Auslieferung Jesu: Jesus, der die Brüderlichkeit lebte, erleidet das gleiche Schicksal wie Abel. Der Bruderkuss wird verfälscht zum Zeichen des Verrats. Dies ist der Höhepunkt der Unheilsgeschichte: Er, der einen neuen Anfang reinster brüderlicher Liebe setzt, der menschgewordene Gott selbst, wird zum Opfer der Abkehr von Gott. Am Verrat Jesu und seiner Liebe sind wir je auf unsere Weise beteiligt, und es ist nicht weniger der Verrat unseres Selbst und unserer Mitmenschen.
Die Frau und der Drache: Die Frau in Wehen ist ein Symbol für die Kirche, das Gottesvolk des neuen Bundes. Bedrängt wird die Frau vom Drachen, doch vernichten kann er sie nicht. Bekleidet mit der Sonne, der Herrlichkeit Gottes, ist sie für immer in der treuen Hut Gottes geborgen. Deshalb ist die himmlische Frau für Christen in einer Zeit der Bedrängnis und Verfolgung das große Zeichen der Hoffnung und Zuversicht, dass Gott seine Kirche retten wird. Auch für uns, die wir noch auf dem Weg zur Vollendung sind, ist die Frau ein Hoffnungszeichen.
Die Rettung des Jona: Dieses Bild steht für den Glauben Israels und aller Christen, dass Gott eine neue und endgültige Initiative ergriffen hat, die Menschen zu retten. Jona wird von Gott gesandt, die heidnischen Bewohner Ninives zur Umkehr einzuladen. Weil er sich versagt, gerät er in Bedrängnis, eben in den Bauch des Seeungeheuers. Nach seiner eigenen Umkehr kann er die Bewohner Ninives bekehren. So ist die neue Initiative Gottes nicht auf Israel beschränkt, sie gilt von Anfang an allen Menschen.
Die Auferstehung Jesu: Das Bild zeigt die Auferstehung Jesu Christi, für uns der Höhepunkt der Heilsgeschichte, weil sie der sichere Grund unserer Hoffnung ist, dass auch wir auferweckt werden. Es ist die Hingabe Jesu, seine Liebe zu uns bis in den Tod, die uns den Weg zur ewigen Verklärung öffnet. So macht uns die Gewissheit unserer eigenen Auferweckung frei, unsere Welt so zu gestalten, wie sie ursprünglich als Paradies von Gott gedacht war.
Die Wiederkunft Christi: Das dritte Bild zeigt den wiederkommenden Herrn als Richter und Vollender des Weltalls, Alpha und Omega, Anfang und Ziel der Geschichte. Mit der Wiederkunft Christi verbindet sich der Glaube an die Auferstehung aller Toten, das allgemeine Gericht und die endgültige Heimholung der Welt zum Vater. Das Maß, nach dem wir Menschen gerichtet und vollendet werden, ist die Geschwisterlichkeit, die wir gelebt haben: „Was ihr einem dieser geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.”
Text: Prof. Dr. Hermann-Josef Pottmeyer